Prekarisierung der Arbeitsbedingungen

Prekarisierung der Arbeitsbedingungen

 

MYTHOS: „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt”

Publiziert 02.01.2014
sparen-krankenhaus-comicBeigewum / Arbeit & Wirtschaft
Zu wenig privates Sparen ist weder Ursache noch Auslöser der aktuellen Krise gewesen. Regulative Schwächen und wachsende Ungleichverteilung innerhalb und zwischen den Staaten sind systemische Probleme, an deren Lösung gearbeitet werden muss. Versuche, die Krisenkosten durch Einsparungen im Sozialstaat zu zahlen sind zum Scheitern verurteilt, da sie ursächliche Probleme nicht lösen, sondern im Gegenteil vergrößern. Genauso wenig wird angebliches „moralisches“ Sparverhalten von Individuen den Ausweg aus der Krise bringen. Nur sehr wenige haben etwas davon, wenn wir alle „den Gürtel enger schnallen“. Der Großteil der Bevölkerung wird jedoch lediglich weiter – bildlich gesprochen – „ausgehungert“.
Gesamter Artikel auf blog.arbeit-wirtschaft.at
Weitere Mythen:

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Copyright aus Der Freitag – 09. Mai 2014

Wir schuften uns zu Tode

Lebensqualität Fast sieben Millionen Deutsche haben eine 45-Stunden-Woche. Trotz technischen Fortschritts gelingt es unserer Gesellschaft nicht, weniger zu arbeiten. Warum eigentlich?

Wir schuften uns zu Tode

Illustration: Otto

Immer mehr Stress, immer mehr Konsum, immer mehr Wirtschaftsleistung – das ist das Prinzip, nach dem unsere Gesellschaft nach wie vor funktioniert. Nur: Richtig glücklich wird dadurch niemand. Dabei gäbe es einen ganz einfachen Weg zu mehr Wohlstand im Sinne von Lebensqualität. Man könnte einfach weniger arbeiten. Der technische Fortschritt macht’s möglich. Trotzdem klappt es nicht mit der Arbeitszeitverkürzung, und zwar schon seit Jahren. Der Widerstand kommt von allen Seiten: von Unternehmern, aber auch von Arbeitnehmern und nicht zuletzt auch von den Gewerkschaften. Und die Politik nutzt ihre Möglichkeiten ebenfalls nicht, kürzere Arbeitszeiten attraktiv zu machen.

Heute ist die Arbeit in Deutschland extrem ungleich verteilt: Mehr als drei Millionen Menschen sind offiziell als erwerbsarbeitslos gemeldet. Gleichzeitig schuften fast sieben Millionen Menschen 45 oder mehr Stunden pro Woche. Die einen sind deprimiert von der aussichtslosen Perspektive auf dem Arbeitsmarkt, die anderen rackern rund um die Uhr und werden nicht selten dadurch krank. Die tatsächliche Wochenarbeitszeit beträgt im Durchschnitt 31,5 Stunden. Warum können nicht alle ungefähr gleich viel arbeiten?

Arbeitgeber für 35-Stunden-Woche

Diese Frage wird am heutigen Samstag in Hamburg diskutiert, auf einer Konferenz mit dem Titel „Arbeitszeitverkürzung jetzt!“. Am morgigen Sonntag beginnt der DGB-Kongress in Berlin, doch in letzter Zeit hat eher die Arbeitgeberseite bei diesem Thema mit ungewohnten Forderungen auf sich aufmerksam gemacht. Eine 35-Stunden-Woche für alle – diesen Vorschlag unterbreitete der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Eric Schweitzer, in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Gemeint war, dass in einer Familie beide Elternteile gleich viel arbeiten. „In der Summe ist das immer noch mehr, als wenn der Mann 40 Stunden arbeitet und die Frau nur halbtags.“

Damit keine Missverständnisse aufkommen, erklärte er noch: „Wir werden unsere Wirtschaft nicht am Laufen halten, wenn alle weniger arbeiten.“ Es geht also um Wachstum, Wachstum, Wachstum. Der technische Fortschritt führt nicht zu weniger Arbeit, sondern zu einer größeren Wirtschaftsleistung. Die Gesellschaft häuft immer mehr Güter an. Viele werden aus Mangel an Zeit kaum genutzt, bevor sie im Müll landen. Der Ressourcenverbrauch steigt.

Wirtschaftswachstum unnötig

Dabei ist Wirtschaftswachstum zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gar nicht nötig – wenn stattdessen die Arbeitszeit verkürzt wird. Das haben selbst die Gewerkschaften noch nicht begriffen. Normalerweise wird argumentiert, dass Produktivitätssteigerungen dazu führen, dass Arbeitsplätze abgebaut werden, was durch Wirtschaftswachstum ausgeglichen werden müsse. Wenn aber alle Beschäftigten etwas weniger arbeiten, dann wird auch niemand arbeitslos – ganz ohne Wirtschaftswachstum.

Die Massenarbeitslosigkeit lasse sich bei den aktuellen Produktivitätssteigerungen auch gar nicht durch Wirtschaftswachstum allein bekämpfen, sondern nur, wenn auch Arbeitszeiten verkürzt werden. Das sagt Heinz-Josef Bontrup, Wirtschaftsprofessor an der Westfälischen Hochschule in Recklinghausen und Mitverfasser des Memorandums, das jährlich von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik herausgegeben wird. Er hat errechnet, dass in Deutschland ein Arbeitsvolumen von rund zehn Milliarden Stunden pro Jahr fehlt, um alle Arbeitslosen und alle Teilzeitkräfte, die gerne Vollzeit arbeiten würden, zu beschäftigen. Im vergangenen Jahr seien gut 48 Milliarden Arbeitsstunden geleistet worden, diese Zahl müsste also um rund 20 Prozent wachsen. „Das ist völlig unrealistisch. Es bleibt also nur die Arbeitszeitverkürzung.“

Die Ware Arbeitskraft verknappen

Ganz einfach ist das allerdings nicht. Wenn alle Beschäftigten weniger arbeiten, werden auch Fachkräfte in bestimmten Bereichen gesucht, für die die derzeit Arbeitslosen nicht qualifiziert sind. Mit anderen Worten: Angebot und Nachfrage müssen zusammenpassen. Durch Fortbildungen ließe sich das Problem jedoch deutlich abmildern. Vorstellbar ist ebenfalls, dass Arbeitsprozesse anders organisiert werden, sodass statt des einen hochqualifizierten Experten zwei weniger gut ausgebildete Arbeitskräfte die Aufgaben übernehmen.

Im Kern geht es bei der Arbeitszeitverkürzung um eine Machtfrage. Bei hoher Arbeitslosigkeit sind die Menschen eher bereit, für einen geringen Lohn zu arbeiten, das freut die Unternehmen. Wenn die Ware Arbeitskraft massenhaft angeboten wird und die Nachfrage nicht groß genug ist, sollten die Gewerkschaften auf kürzere Arbeitszeiten drängen, sagt Wirtschaftswissenschaftler Bontrup. „Jeder Unternehmer kennt das Prinzip: Wenn es einen Überschuss gibt, muss das Angebot verknappt werden, um den Preisverfall zu stoppen.“ Gelingt das nicht, kann das in einen Teufelskreis führen. Die Unternehmen können die Arbeitslosigkeit nutzen, um längere Arbeitszeiten durchzusetzen, was wiederum die Arbeitslosigkeit erhöht.

Reduzieren ist unsexy

Die Gewerkschaften sind aber auch nicht ganz unschuldig. „Sie übersehen offenbar, dass zu einer guten Tarifpolitik auch die Arbeitszeitpolitik gehört“, sagt Bontrup. Doch kürzere Arbeitszeiten sind derzeit eher unsexy. Das hat seine Gründe: In den 80er-Jahren musste die IG Metall eine Niederlage im Arbeitskampf für die 35-Stunden-Woche einstecken, seitdem leiden die DGB-Gewerkschaften unter einer Art Trauma.

Zudem gibt es bei einer Arbeitszeitverkürzung weniger Gehalt. Selbst der volle Lohnausgleich ist dadurch erkauft, dass es eben keine (oder eine geringere) Lohnerhöhung gibt. Die Kaufkraft kann jedoch gleich bleiben, wenn die Lohnerhöhung der Inflation entspricht und das Mehr an Freizeit durch die Produktivitätssteigerung ermöglicht wird. Ein einfaches Rechenbeispiel: Steigt die Produktivität um vier Prozent, kann der Lohn um zwei Prozent erhöht werden, wenn dies der Inflation entspricht. Es bleiben noch zwei Prozent übrig, die als Freizeit ausgezahlt werden.

Probleme überall

Wenn sich die Gewerkschaften ausschließlich auf einen höheren Lohn konzentrieren, können die Arbeitnehmer auf eigene Faust ihre Arbeitszeit reduzieren – und entsprechend weniger verdienen. Doch das ist nicht immer ganz einfach, weil die Arbeitgeber oft kein Interesse daran haben. Zwar sind Teilzeitbeschäftigte möglicherweise produktiver und weniger gestresst, jedoch wird die Organisation der Arbeit schwieriger, wenn alle nur noch Teilzeit arbeiten. Allein die Kommunikation zwischen allen Mitarbeitern dürfte erheblich komplizierter werden. Zudem sind Arbeitsplätze oder andere Infrastruktur möglicherweise nicht voll ausgelastet. Das kostet Geld. Hinzu kommt, dass neue Mitarbeiter eingestellt werden müssen. Wer weiß, ob die genauso gut sind wie die Vollzeitkräfte, die jetzt ihre Arbeitszeit reduzieren möchten?

Viele Arbeitnehmer versuchen aber gar nicht erst, weniger Stunden zu arbeiten. Sie haben sich an ihr hohes Einkommen und ihren Lebensstandard gewöhnt, die Werbung verkauft ihnen immer neue Bedürfnisse nach weiteren Konsumgütern. Wenn mehr Geld da ist, wird es auch ausgegeben. Später wieder runterzuschrauben, ist oft schmerzhaft. Und am Berufsanfang arbeiten die meisten Leute in Vollzeit. Schließlich ist ihr Stundenlohn noch nicht so hoch, sie wollen möglicherweise Geld sparen, um später eine Familie ernähren zu können, und für den Einstieg in den Job ist es meist auch nicht verkehrt, die ganze Woche da zu sein.

Und wieder die Machtfrage

Manche fürchten auch, eine kürzere Arbeitszeit führe bloß dazu, dass die gleiche Arbeit schneller erledigt werden muss. Das mag im Einzelfall stimmen, es kommt darauf an, dass diese Personen dann einen Teil ihrer Arbeit delegieren. Ob sie das gegenüber dem Arbeitgeber durchsetzen können, hängt wiederum von der Machtfrage ab. In Zeiten der Arbeitslosigkeit ist das schwieriger, daher könnte eine kollektive Arbeitszeitverkürzung auch hier helfen.

Auch die Politik kann den Kampf für mehr Freizeit unterstützen. Je progressiver beispielsweise die Einkommenssteuer ist, desto unattraktiver werden lange Arbeitszeiten mit hohem Gehalt. Werden Vielverdiener stärker besteuert, könnte dies dazu führen, dass sich einige überlegen, weniger zu arbeiten. Zudem wäre es sinnvoll, ein Grundeinkommen einzuführen. Derzeit wird Geringverdienern das Arbeitslosengeld gekürzt, sobald sie einer Beschäftigung nachgehen. Dadurch liegt der faktische Stundenlohn in den ersten Arbeitsstunden bei wenigen Euro. Attraktiv wird die Arbeit erst dann, wenn sie viel arbeiten und ihnen der Stundenlohn im vollen Umfang zugutekommt.

Auch der gesetzliche Mindestlohn kann bei der Arbeitszeitverkürzung helfen. Er stärkt die Arbeitnehmer, sie können dadurch ihre Forderungen besser durchsetzen. Und vielleicht besinnen sich die Funktionäre irgendwann darauf, dass mehr Geld allein auch nicht glücklich macht. Weil sich dann alle weiter zu Tode arbeiten.

Kommentare (15)

Oberham

Oberham 10.05.2014 | 07:55

So lakonisch kann man über ein irrsinniges Hamsterrad reflektieren – gratuliere!
Fällt es wirklich so schwer weniger zu arbeiten, um dafür von der Last des Konsums befreit zu werden?
Würden die Menschen kapieren, dass wohl mehr als die Hälfte ihrer Einkaufsarbeit nichts weiter als Müll generiert und vollkommen unnütz für sie, die Kaufenden, ist, könnten sie vielleicht die Geschwindigkeit, mit der sich das Hamsterrad dreht reduzieren.
Mein Empfehlung – Grieg in den Walkman rein und spazierengehen – zur Ruhe kommen und mal über das Leben und das was Leben ausmacht nachdenken.
http://www.youtube.com/watch?v=M7NLZDig9_U
noch ein Tip – sollten sie mal wieder im Autoradio Werbung hören – tippen sie kurz und lassen einen Klassiksender einspringen – reflektieren sie die Veränderung – debile Werbesprüche verschwunden – meist ersetzt durch betörende Tonfolgen – sorry – aber die meisten leben in den Werbebotschaften und ihr Leben wird im Wahnsinn der totalen Kommerzialisierung zerrieben – am Ende bleiben Brösel die man in einer Plastikwanne, in irgend einem Heimzimmer solange am Leben hält, wie es kommerziell sinnvoll erscheint…………..
Der Beitrag nennt manches – doch wie gesagt – wer darüber in dieser Form fabuliert, der scheint mir auch noch ganz gelassen zu bleiben, so man ihm einen Chip ins Hirn implantiert, zwecks Produktivitätssteigerung.
Schramm sprach vom Zorn, ich denke Zorn muss man sich von der Seele schreiben – nein, es sollte nicht Zorn sein – es sollte schlicht der Mut sein, aus dem Rad zu steigen und das Leben mit beiden Händen zu fassen!
….. doch die Angst vor der Armut, sie hindert Euch daran – dabei ist niemand ärmer, als jener, der seine Lebenszeit ungeliebten Abläufen opfert – was kann es schlimmeres geben, als von acht bis fünf in einem Amtszimmer zu hocken, nur um Lohn zu bekommen?
…. ja manche treffen es noch wesentlich schlimmer an, die stehen in staubigen, lauten Fabrikhallen – zwar nicht wie die absoluten Parias der globalisierten Welt – doch letztlich ist auch der Funktionsmensch in einem HDC ein Wegwerfmensch!
…. einzig er hockt in einem Golf und einem EFH in der Vorstadtsiedlung, und beansprucht gut das dreifache an Ressourcen, von dem was zukunftsfähig wäre.

Angelia

Angelia 10.05.2014 | 09:37

toller Beitrag, Danke. Ich füge mal einen Link zu einer Grafik zu, der deutlich zeigt, wie wenig Arbeitnehmer von der Steigerung der Produktivität haben und wieviel die Arbeitgeber… Arbeitszeitverkürzung -verteilung ließe sich aus finanziellen Gründen ohne Weiteres umsetzen.
http://www.jjahnke.net/index_files/14849.gif
Die Sache mit einem niedrigen Bruttoeinkommen hat allerdings auch Auswirkungen auf die spätere Rente. Man müsste also auch parallel die Umstrukurierung des Rentensystems ins Auge fassen Alle zahlen ein – die Renten- Bezüge werden nach unten auf ein Minimum und nach oben auf ein Maximum festgelegt. Private Vorsorge bleibt dann jedem seinem Einkommen entsprechend selbst überlassen.
 

Jörn Giest

Jörn Giest 10.05.2014 | 09:44

<q>Trotz technischen Fortschritts gelingt es unserer Gesellschaft nicht, weniger zu arbeiten. Warum eigentlich?</q>
Diese Frage haben sich schon klassische Ökonomen und schließlich auch Karl Marx gestellt. Im übrigen hat Marx für das 19. Jh. bereits Ihren analoge Überlegungen erschöpfend durchdekliniert; die Argumente von Unternehmern, Angestellten und Ökonomen sind heute genau dieselben wie damals. Aber Marx ist ein toter Hund, nun gut.
Die Analyse der subjektiven Faktoren schenke ich Ihnen, den Rest könnten Sie bei Marx nachlesen, Kapital, Band 1, Kapitel 8 und 13. Ansonsten wäre auch „reelle Subsumtion“ ein gutes Stichwort für Sie. Aber, o weh!, Sie schaffen es ja sogar in diesem Beitrag, nicht ein einziges Mal von kapitalistischer Produktion auch nur zu sprechen (obwohl Sie sogar eine marxsche Kategorie benutzen). Dann müssen Sie eben weiter herumrätseln, wieso die Steigerung der Produktionskräfte durch die Technik nicht mit einer Steigerung der allgemeinen Muße einhergeht.

Angelia

Angelia 10.05.2014 | 10:09

Aber Marx ist ein toter Hund
Das liegt vielleicht auch daran, dass man Marx  richtige theoretische Analyse heute gar  nicht mehr bemühen muss, da, wie in diesem Beitrag dargestellt, nicht nur die Fakten klar für jedermann ersichtlich, sondern auch spürbar sind.
Dann müssen Sie eben weiter herumrätseln, wieso die Steigerung der Produktionskräfte durch die Technik nicht mit einer Steigerung der allgemeinen Muße einhergeht.
Auch hier muss man nicht herumrätseln. Die Sache liegt nämlich klar auf der Hand. Es spielt keine Rolle welches System (sozial.-kapital.) Sie installiert haben oder installieren wollen.
Die Funktion jedes Systems ist abhängig von den Menschen die es steuern/ausfüllen. Und man sollte m. E mal langsam anfangen diesen Umstand zu akzeptieren, die Verantwortlichen klar benennen und verantwortlich machen. 
 

Angelia

Angelia 10.05.2014 | 10:18

Die Funktion jedes Systems ist abhängig von den Menschen die es steuern/ausfüllen. 
.. und im Übrigen auch von den jeweiligen Zielsetzungen der Personen und deren Wertvorstellungen. Sind diese auf das Allgemeinwohl, unter Berücksichtigung der langfristigen Auswirkungen für Mensch und Umwelt ausgerichtet oder rein egoistisch?
Und haben die maßgeblichen politischen und wirtschaftlichen Führungskräfte eigentlich die nötige intellektuelle Kompetenz und Weisheit, um die Dinge für die Allgemeinheit zum Guten zu wenden?
Man muss, glaube ich, keine intellektuelle Leuchte sein, um festzustellen, dass es weltweit gerade nicht einen Einzigen kompetenten und weisen Weltenlenker gibt.
 

h.yuren

h.yuren 10.05.2014 | 10:49

lieber felix,
das thema ist alt und doch immer noch aktuell. denke nicht an marx, wohl aber an bertrtand russell, der vor fast 100 jahren schon mal ausgerechnet hat, dass 3 stunden arbeit am tag ausreichten, das bip oder soll zu erfüllen, wenn, ja, wenn alle arbeitsfähigen tatsächlich mitmachten.
eine andere sache ist die mentalität. wo andauernd von wettbewerb und arbeitskampf die rede ist, steht die kampfbereitschaft im arbeitsalltag wie im sport etc. einer haltung im wege, die eigene wege geht. die z.b. auf einkommen verzichtet, um dingen nachzugehen, die wichtiger sind als gelderwerb und konsum.
versuche, die arbeitszeit neu zu bestimmen, fallen nach kurzer zeit in sich zusammen wie die sandburgen am strand, weil das system unverändert auf diese veränderungen einwirkt. die rufe nach wachstum z.b. sind unvereinbar mit reduktion, mit verzicht.

Jörn Giest

Jörn Giest 10.05.2014 | 11:16
@Angelia

Ich weiß nicht, woher Sie Ihre Auffassung über den Zusammenhang von Struktur und Handlung gewonnen haben, aber sie scheint mir doch allzu naiv.  Die von Ihnen bemühten Werte, Ziele, Zwecke, Interessen, Bedürfnisse etc pp sind ja allesamt gesellschaftlich formbestimmt  oder (Adjunktion) gänzlich gesellschaftlich produziert. Das einzelne Subjekt erwirbt m.o.w. unwillkürlich während seiner Sozialisation und Persönlichkeitsbildung – zumeist auch noch schicht- und milieuspezifische – Werte; die Interessen stellen wohl weitestgehend Systemfunktionen dar. Wenn Sie, so Marx, keinen Tauschwert produzieren, dann haben Sie i.d.R. gar nichts produziert. Wenn Sie Schuhe oder Nähmaschinen oder Kinderspielzeug produzieren wollen, dann müssen Sie es in den Formen von Ware-Geld-Kapital-Kredit usf. tun, oder sie produzieren gar nichts. Diese gesellschaftlichen „Formen“, wie Marx sagt, stellen gewissermaßen Handlungsschemata dar und die Subjekte, die diese Handlungsschemata durch Ihr Tun aktualisieren stehen untereinander in einem zwingenden Handlungszusammenhang. Deshalb sprechen bürgerliche Soziologen (auch linke) gern von „Systemlogik“ oder „Logik der Verhältnisse“ u. dgl. mehr. Welche Rolle spielt hierbei das Bewußtsein und der Wille der Subjekte? Die Subjekte möchten wohl in der Mehrheit gerne anders, aber solange wie sie den kapitalistischen Formzusammenhang nicht lösen oder grundsätzlich infrage stellen können, müssen sie durch ihr Tun Systemfunktionen aktualisieren. Diese systematische Ordnung vorausgesetzt sind die Distributionsverhältnisse (also des gesellschaftlichen Reichtums unter die Individuen, aber auch der Individuen unter die verschiedenen gesellschaftlichen Produktionszweige) nicht beliebig disponibel, mag der Wille zur Umverteilung auch noch so stark sein. Die politischen/bewegten Linken unserer Tage vergessen gerne, daß die Arbeiterbewegung unter sehr eigentümlichen objektiven Bedingungen die modernen sozialen Errungenschaften erkämpft oder wenigstens erpreßt hat, namentlich die Beherrschung des Weltmarktes durch europäische/angloamerikanische Unternehmen. Alle Reichtümer der Erde stapelten sich in europäischen Lager- und Warenhäusern, Märkten und Schaufensterauslagen. Das war nicht immer so und das muß nicht immer so bleiben.
Unter den gegebenen Bedingungen halte ich daher auch jeglichen Verantwortungs- und Schulddiskurs für unnötig und gefährlich. Am Kapitalismus ist niemand schuld. Die Suche nach Schuldigen im modernen Kapitalismus hat historisch in die Barbarei geführt. Ich plaidiere daher mit Marx für eine Entlastung der Subjekte, wo immer möglich. Angesichts Marxens eindringlicher Schilderung der ursprünglichen Akkumulation und der Arbeitswirklichkeit im 19. Jh. sollte wohl klar sein, daß dies nicht auf eine pauschale Gleichgültigkeit gegen Ausbeutung und Betrug hinausläuft.

GEBE

GEBE 10.05.2014 | 11:37
@Jörn Giest

„…Interessen, Bedürfnisse etc pp sind ja allesamt gesellschaftlich formbestimmt  oder (Adjunktion) gänzlich gesellschaftlich produziert.““ (…) „
 
Ist das nicht sehr kurz gedacht resp. sogar ein circulus vitiosus, wenn Sie gleichwohl vom Willen reden? Dieser wäre ja dann auch nur gesellschaftlich vor-bestimmt (konditioniert).
Und damit wäre der Mensch als aufrecht gehenden Ratte definiert.
Andererseits besteht dasjenige Phänomen, daß es Epochen gibt und daß innerhalb dieser Epochen Menschen geboren werden (phänomenologisch betrachtet sogar als eine Art Schwung von Menschen), die vollkommen andere und neue Ideen in die Welt bringen, welche weder als Wirkungen aus gesellschaftlich schon Gegebenem zu verstehen sind, noch als etwa als genetisch determiniert. Ein Beispiel selbst ist Marx, welcher den krassen Gegensatz zum Idealismus geschaffen hat, hin zu einem – ich möchte sagen -, unseligen, alles beherrschbaren Utilitarismus.

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gweberbv 10.05.2014 | 12:08

Sie haben sich an ihr hohes Einkommen und ihren Lebensstandard gewöhnt, die Werbung verkauft ihnen immer neue Bedürfnisse nach weiteren Konsumgütern.
Die teuerste Anschaffung im Leben eines Menschen ist meist das Eigenheim. An der Preisentwicklung von Neubauten kann man schön ablesen, dass es nicht nur die böse Werbung ist, die dem Menschen unsinnige Bedürfnisse einimpft. Stattdessen wird z. B. Bauen immer teurer, weil ein Gebäude immer mehr leisten kann, soll und – was z. B. Energieverbrauch angeht – sogar gesetzlich festgeschrieben leisten muss.
Hätte man die Lohnsteigerung seit den 80ern in Form von Freizeit ausgezahlt, könnten sich heute noch viel wenger Menschen eine (moderne) Wohnung/Haus leisten.

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neues-deutschland.de / 06.08.2013 / Seite 1

Vor dem Epochenbruch

Warum die gegenwärtige Krise keine »normale« ist und was das für DIE LINKE. heißt
Von Manfred Sohn
Kein Naturgesetz, keine nationale Lösung. Aber die Sackgasse ist da, meint Manfred Sohn und hofft, dass sich die Linke den Stürmen, die jetzt kommen, als würdig erweist. Ein Beitrag zur Debatte über Tiefe, Dauer und Perspektive der gegenwärtigen Krise – und was die Linke daraus machen sollte.

Als die bürgerliche Welt 2008 noch davon brabbelte, dies sei zwar eine schwere Krise, sie sei aber bald vorbei, haben verschiedene Kräfte auf der Linken das bestritten und zu Protokoll gegeben, dies sei in den Auswirkungen nur vergleichbar mit dem, was den großen Krisen von 1873 oder 1929 folgte. Diejenigen, die diese Position vertreten haben – der Autor dieses Artikels gehört dazu – haben sich zu korrigieren.

Es mehren sich die Anzeichen dafür, daß diese Krise nicht nur keine normale zyklische Krise ist, sondern daß sie anders als frühere große Krisen nicht zu einer anderen Variante des Kapitalismus führt. Im folgenden soll lediglich ein Satz begründet werden: Wir erleben in diesen Monaten und Jahren den Beginn der finalen Krise des kapitalistischen Systems.

Wir Linken haben uns angewöhnt, Angst vor diesem Satz zu haben. Zu oft haben wir »das letzte Gefecht« besungen, gekämpft und sind dann geschlagen von dannen gezogen, in den Ohren den Spott derer, die erleichtert oder höhnend die Wiedergeburt des Kapitalismus in neuer Kleidung feierten. Vorsichtig, uns selbst mißtrauisch beäugend sind wir mit der Ankündigung, daß es diesmal dem Lohn- und Ausbeutungssystem wirklich an den Kragen geht, daß Schicht im Schacht des kapitalistischen Elends ist. Aber nicht nur einzelne Symptome, sondern auch eine genauere Untersuchung zeigt, daß dieses System in den vor uns liegenden Jahrzehnten auf seine innere Schranke aufläuft, an der es zerbricht. Wir stehen am Rande des großen Epochenbruchs.

Um zu begreifen, was passiert, gehen wir zunächst zurück ins Jahr 1857, in dem eine in ihren Ausmaßen bis dahin unvorstellbar große Krise Karl Marx dazu trieb, krank vor Müdigkeit in den Nachtstunden zwischen Oktober 1857 bis März 1858 die heute 1000 Druckseiten starken »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie« zu schreiben. Dort analysiert er die Mechanismen, die die innere Widersprüchlichkeit des Kapitalismus an einen Punkt treiben würden, an dem er aufhören muß, zu funktionieren. Wir müssen uns mit einigen Grundüberlegungen des alten Meisters beschäftigen, in einem zweiten Schritt diese Überlegungen neben das legen, was wir zur Zeit in Südeuropa, in Afrika, in China, in den USA und bald auch bei uns erleben und wir werden sehen: Anders als früher geht es diesmal nicht um einen innerkapitalistischen Variantenwechsel. Es geht um einen Systemwechsel.

Die innere Schranke

Eine der zentralen Begriffe in den »Grundrissen« ist das Wort »Schranke«. Das innere Grundgesetz aller kapitalistisch organisierten Gesellschaften, egal welcher Ausprägung, dessen Offenlegung wir Marx verdanken, ist die jedem ordentlichen Kapitalisten in Fleisch und Blut übergegangene Zwanghaftigkeit, aus vorhandenem Geld mehr Geld zu machen: G-G‘. Macht er das nicht, wird er vom Markt verdrängt und verliert nicht nur sein ‘, sondern sein gesamtes ursprünglich eingesetztes G. Deshalb muß er – bei Strafe des Untergangs – beständig die Schranken der Produktion ausweiten, immer mehr Maschinen mit lebendiger Arbeit kombinieren, um zu wachsen.

Kapitalismus ist daher in der Perspektive nur als einheitliches, untrennbar verwobenes Weltsystem zu denken: »Die Tendenz, den Weltmarkt zu schaffen ist unmittelbar im Begriff des Kapitals selbst gegeben. Jede Grenze erscheint als zu überwindende Schranke.« Unter diesem herrschenden Grundgesetz wird alle Natur, werden alle Beziehungen der Menschen zu Pflanzen und Tieren und zueinander in den Schlund dieses einen Zwecks der Schaffung von noch mehr Geld gezogen. Kapitalismus treibt »über nationale Schranken und … Naturvergötterung… Er ist destruktiv gegen alles dies und beständig revolutionierend, alle Schranken niederreißend…« Die Schranke, die er aber nicht überwinden kann, ist keine äußere Schranke. Bevor er die natürlichen Lebensgrundlagen unwiderruflich zerstören kann – auch dies zeichnet sich am Horizont unserer Zeit ja bereits ab – stößt er aufgrund seines eigenen Mechanismus auf seine innere Schranke.

Kapital selbst bildet keinen Wert. Alles, mit dem wir unsere menschlichen Bedürfnisse befriedigen, entstammt der produktiven Kombination von Natur und lebendiger menschlicher Arbeit. Die Natur ist vor uns da und bildet einen Wert nur, wenn wir sie – sei es durch das Abpflücken des Apfels oder durch etwas kompliziertere Prozesse – für unsere Bedürfnissbefriedigung erschließen. Die wertbildende Substanz, die in jeder Ware, die wir konsumieren, enthalten ist, ist also lebendige menschliche Arbeit. Weil es egal ist, ob sie verwendet wurde, um einen Stuhl zu zimmern oder ein Buch zu schreiben, nennt Marx sie »abstrakte Arbeit«.

Getrieben durch die Konkurrenz muß der Kapitalist, um produktiver zu werden, aber beständig menschliche Arbeit entweder immer billiger machen oder aus dem Produktionsprozess verdrängen. In der Perspektive führt das dazu, daß der Kapitalismus an diesem inneren Widerspruch kollabiert. Diesem Grundgesetz des Untergangs kommt Marx 1857/58 auf die Schliche, legt das Manuskript weitgehend unveröffentlicht wieder beiseite und greift das Thema in seinem Hauptwerk »Das Kapital« einige Jahrzehnte später wieder auf, in dessen dritten Band, veröffentlicht von seinem Freund Friedrich Engels nach Marx‘ Tod, es folglich heißt: »Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint…«.

Marx hatte – die revolutionäre Ungeduld vieler seiner Nachfolger ebenso vorwegnehmend wie viele ihrer Gedanken – schon bei der großen Krise 1857 erwartet, daß das System auf dieser inneren Schranke aufläuft und entgleist – deshalb sein wütendes Schreiben, um mit »der ökonomischen Scheiße«, wie er es irgendwo nennt, fertig zu werden, bevor die aus seiner Sicht unvermeidliche Revolte der Massen gegen die Unerträglichkeit der Krise beginnt. Wenn nun aber Arbeitskraft als die einzige wertbildende Substanz beständig aus dem kapitalistischen Produktionsprozess herausgedrückt wird, kann der Zeitpunkt, zu dem dieser ökonomische Mechanismus nicht mehr funktioniert, herausgezögert werden, wenn völlig neue Produktionsfelder erschlossen werden, in die diese freigesetzte Arbeitskraft hineinströmen und – nur dann funktioniert das – dort wertbildend von anderen (oder denselben) Kapitalisten eingesetzt werden kann.

Genau das aber ist die letzten 150 Jahre kapitalistischer Geschichte passiert: Er hat beständig entweder bisher von ihm noch nicht unter den Pflug genommene Gebiete rund um den Globus erschlossen oder ganz neue Industrien aus dem Boden gestampft, in denen massenhaft menschliche Arbeitskraft verwertet werden konnte. Aber – so Marx eben schon am Beginn dieses Prozesses – dies kann das Scheitern nur hinauszögern, nicht verhindern. Bevor wir zu den immer verzweifelter werdenden Manövern von Bernanke, Schäuble und anderen kommen, um das Zerschellen an der inneren Schranke des Kapitalismus doch noch zu vermeiden, schauen wir uns jetzt einige Zahlen aus der Gegenwart an.

Stehendes, wachsendes Heer dauerhaft Überflüssiger

Ist die jetzige kapitalistische Krise mit der bisher folgenreichsten, der von 1929 vergleichbar? Winfried Wolf weist auf ein paar nüchterne Daten hin: »Die Weltwirtschaftskrise war in Deutschland auf drei Jahre begrenzt. Wenn wir hier als besseren Maßstab die USA wählen, so dauerte dort die durch die Weltwirtschaftskrise ausgelöste Massenarbeitslosigkeit ‚nur‘ 5 bis 7 Jahre. Inzwischen haben wir es jedoch mit einem Zeitraum von einem Dritteljahrhundert (1983-2013) zu tun, in dem die Massenarbeitslosigkeit bei rund 10 Prozent … liegt.«

Diese Zahlen sind im Weltmaßstab noch moderat. Während bei uns noch die Mehrheit der Menschen ihr Leben fristet, indem sie ihre Arbeitskraft gegen Lohn verkauft, wird dies weltweit zunehmend zu einer Ausnahmeerscheinung. In Südeuropa wird gegenwärtig unter Schmerzen das normal, was seit Jahrzehnten anderswo schon normal geworden ist und was in der Perspektive auch in Deutschland normal werden wird: Daß die Mehrheit der Menschen überhaupt keinen Kapitalisten mehr findet, der ihre Arbeitskraft kauft. Die massenhafte und lebenslange Freisetzung von Arbeitskräften fräst sich gegenwärtig von der Peripherie des Kapitalismus in seine Zentren hinein. »Es findet«, wie Tomasz Konicz richtig schreibt, »ein Prozess des ‚Abschmelzens‘ der relativen Wohlstandsinseln der ‚Ersten Welt‘ statt. Das blanke Elend, der Pauperismus, rückt immer näher an die Zentren der kapitalistischen Weltwirtschaft heran. Immer mehr Menschen in diesen Krisenregionen finden sich im Krisenverlauf somit in einem mörderischen Widerspruch verfangen: Ihr Überleben können die Lohnabhängigen im Kapitalismus nur durch den Verkauf ihrer Arbeitskraft gewährleisten. Doch zugleich schwinden die Arbeitsgelegenheiten; die Lohnarbeit scheint sich regelrecht zu verflüchtigen…«

Warum verflüchtigt sich die Lohnarbeit jetzt so dauerhaft? Als Marx die Krisenprozesse des 19. Jahrhunderts analysierte, prägte er den Begriff der »industriellen Reservearmee«, die während der kapitalistischen Krisen auf’s Pflaster geworfen wurde, schrecklich darbte und im Aufschwung, meist zu schlechteren Löhnen als vorher, wieder eingestellt wurde. Das schien lange der normale Rhythmus zu sein, funktioniert aber, wie oben dargelegt, seit Jahrzehnten nicht mehr. Aus der »Reservearmee« ist ein stetig anschwellendes, verzweifelter und (hoffentlich) wütender werdendes Heer dauerhaft aus dem kapitalistischen Wirtschaftsprozess Ausgegliederter, ein Heer der Überflüssigen geworden. Dieser Prozeß ist übrigens auch – und nicht subjektive Unzulänglichkeiten der Handelnden – der letzte Grund der chronisch gewordenen Schwäche der Gewerkschaften in allen kapitalistischen Ländern.

Drei Dinge vor allem sind anders als in allen hinter uns liegenden Jahrzehnten, in denen der Kapitalismus unbesiegbar schien.

Die brutalste und ökonomisch wirkungsvollste Bereinigung von Überkapazitäten, die sich vor Krisen aufbauen, ist der Krieg. Er vernichtet sowohl tote Arbeit – Fabriken durch Verschleiß oder direkte Zerstörung, Wohnungen, Kleidungen usw. – als auch lebendige Arbeit. Also gab es nach der Schlächterei des ersten Weltkriegs die goldenen zwanziger Jahre und nach der noch größeren des zweiten das noch länger anhaltende Wirtschaftswunder vor allem in den vom Krieg unter den später kapitalistischen am meisten zerstörten Ländern Deutschland und Japan. Seitdem am 6. August 1945 um 8:15 Uhr über Hiroshima eine Atombombe explodierte, scheidet ein großer Krieg als Mittel gegen die große Krise aus.

Lebensverlängernd für den Kapitalismus haben zweitens die Erfolge der Arbeiterbewegung gewirkt. Die ersten Erfolge – Durchsetzung des Zehnstundentages, Begrenzung der Kinderarbeit, moderate Lohnerhöhungen – waren bescheiden. Enorm beschleunigend haben die Bolschewiki und die fast gelungene Novemberrevolution in Deutschland gewirkt: Nach 1917/18 stieg aus Angst vor der Revolution die Bereitschaft des Kapitals, der Arbeiterklasse mehr Lohn als vorher bei kürzerer Arbeitszeit zu geben, meßbar an: Achtstundentag, Betriebsräte, Lohnerhöhungen. Die nach dem ersten Schock wieder nachlassende Bereitschaft, die sich prompt in Verlängerung der Arbeitszeit, Lohnsenkungen und Entmachtung der Betriebsräte und Gewerkschaften in den späten 20er und 30er Jahren niederschlug, wurde enorm aufgefrischt durch den revolutionären Schub der Jahre 1945 bis 1949 und die bis 1989 wirkende Systemkonkurrenz.

Das Ergebnis: erneute Stärkung der Massenkaufkraft trotz 5-Tage-Woche und gesetzlich garantiertem Jahresurlaub. Das Ansteigen der Produktivität, das Marx‘ zufolge zu einem Verschwinden der Arbeit aus dem kapitalistischen Produktionsprozess hätte führen müssen, fand in dieser erhöhten Nachfragekraft den Markt, den sie brauchte, um nun den Planeten mit Autos, Waschmaschinen, Bergen ölbasierter Textilien und ganzen LKWs voll Hausrat zu füllen, über den die Erben heute sterbender Mittelstandseltern stöhnen, weil noch nicht einmal auf Flohmärkten für all‘ diese geronnene Mühe vorhergehender Generationen viel Geld zu holen ist. Dieser Effekt schwindet seit unserer großen Niederlage von 1989 nun seit über 20 Jahren – der Kapitalismus entwickelt sich wieder ungestört durch sozialistische Alternativen auf eigener Grundlage und prägt somit seine in ihm ruhenden Gesetze ungetrübt aus.

Dem am 18. Juli 2012 viel zu früh verstorbenen Robert Kurz und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern gebührt das Verdienst, für den deutschen Sprachraum den dritten, letztlich entscheidenden Faktor herausgearbeitet zu haben. Während auf die erste, dampfkraftgetriebene industrielle Revolution ein Schub neuer Waren in Form von Eisenbahnen, Brücken, eisernen Gebrauchsgegenständen und auf die zweite, elektrogetriebene ein Schub in Form von Massenelektrifizierung von Haushalten und verbunden mit der Entwicklung der Verbrennungsmotoren nach 1945 dann auch noch ein Schub der Individualmotorisierung folgte, gibt es einen solchen Effekt nach der dritten großen industriellen Revolution, die im Gefolge der Mikroelektronik über uns hinwegrollt, nicht. Das lächerliche Handygebimmel hat weder akustisch noch ökonomisch das Niveau von Dampflokomotiven, Strommasten oder dem Model T.

Weil also kein Land in Sicht ist, das noch für den Kapitalismus erschlossen werden könnte, weil es auch keine neuen arbeitsintensiven Massenprodukte gibt, für deren Erzeugung die von der Mikroelektronik überflüssig Gemachten zu Millionen eingesetzt werden könnten, setzt sich das bereits von Marx enthüllte Gesetz durch, nach dem der Kapitalismus aufgrund der ihm innewohnenden Mechanismen zwangsläufig die einzige Ressource, die wertbildend ist – die menschliche Arbeitskraft – , zum Verdursten in die Wüste oder zum Ersaufen ins Mittelmeer schickt.

Die Zeitkäufer und die Geduldigen

In Michael Endes wunderschöner Geschichte »Momo« sind zum Lachen unfähige Männer in grauen Anzügen unterwegs, um die Zeit zu stehlen. Die sich unverdrossen zu Krisengipfeln versammelnden Typen, die allesamt das Zeug haben, künftigen Generationen als je nach Stimmung alberne oder bedauernswerte Wesen aus einer zum Glück untergegangenen Epoche zu erscheinen, haben nicht nur äußerlich Ähnlichkeit mit diesen Zeit-Dieben.

Kapitalist zu sein, war und ist immer ein Wagnis: Zunächst schießt er Geld vor, um Waren und vor allem die Ware Arbeitskraft zu kaufen, die er irgendeinen Gebrauchswert produzieren läßt, von dem er hofft, das auf dem Markt verkaufen zu können. Der im Produktionsprozess aus der Arbeitskraft herausgeholte Mehrwert realisiert sich also erst im Verkauf, mithin später. Daher blüht mit dem Kapitalismus das Kreditwesen auf: Der Gläubiger gilt Geld gegen das Versprechen des Schuldners, ihm am Schluß des Ausbeutungsprozesses einen Teil seines Profits in Form von Zinsen abzugeben. Derselbe Mechanismus, der die Arbeitskraft schrittweise aus dem Produktionsprozeß verdrängt, führt auch dazu, daß der Anteil toter, vergangener Arbeit – das fixe Kapital in Form von Maschinen, Gebäuden, komplizierten Anlagen – gegenüber der eingekauften lebendigen Arbeit wächst. Die Ketten des Produktionsprozesses werden verwickelter und vor allem länger. Damit wächst aber die Rolle des Kredits weiter.

Rosa Luxemburg hat in ihren Vorlesungen zu Geschichte der Nationalökonomie darauf hingewiesen, daß durch die Nutzung dieser Zeitspanne zwischen Gewinnschöpfung (im Produktionsprozess) und Gewinnrealisierung der Kredit helfen kann, eine wegen fehlender kaufkräftiger Nachfrage bereits fällige Krise hinauszuschieben – allerdings um den Preis, daß die dann verspätet ausbrechende Krise den Menschen dann umso gewaltiger um die Ohren fliegt. Um eine Ware zu produzieren, sind die Vorlaufzeiten heute um Jahre und Jahrzehnte länger als noch im 19. Jahrhundert. Flugzeuge, die uns heute transportieren, sind in ihren ersten Skizzen vor Jahrzehnten geplant worden. Das, was heute moralisch aufgeheizt als scheinbar nur der Gier entspringende Aufblähung der Banken- und Spekulantensphäre gegeißelt wird, hat hier seine ganz nüchterne, kapitalismus-immanent unentbehrliche Funktion: Nur der Kredit in all‘ seinen Spielarten sichert den Zufluß von frischen Geld an diejenigen, die versprechen, daraus in einigen Monaten (19. Jahrhundert), Jahren (20. Jahrhundert) oder Jahrzehnten (21. Jahrhundert) G‘, also Geld mit einem kräftigen Plus zu machen.

Es ist menschlich und in gewisser Weise für Leute, die nur tagestaktisch zu denken in der Lage sind, auch politisch verständlich, aber dennoch grundfalsch, zu glauben, durch Eingrenzung der Spekulation die kapitalistische Krise beherrschen zu können. Das ist so als glaubte jemand, mit der Senkung des Fiebers alle Krankheiten beseitigen zu können. Dieser Finanzmarkt ist ohne Beseitigung des gesamten kapitalistischen Systems genauso leicht oder schwer zu verkleinern wie das kapitalistische System von 1923 wieder herzustellen ist – nämlich überhaupt nicht.

Folgendes ist in den letzten 30 Jahren passiert ist: Als Ende der 60er Jahre die Nachkriegskonjunktur ausgelaufen war und der Kapitalismus wieder auf seine bereits von Marx analysierte innere Schranke zusteuerte, ist mit den Mitteln, die Keynes vorgeschlagen hat, die Krise hinausgezögert worden. Diese Mittel sind während des 1. Weltkrieges von Keynes entsonnen worden als Vorfinanzierung von Kriegskosten. Grob geht das so: Der Staat pumpt sich Geld (oder druckt notfalls welches) im Vorgriff auf künftige Steuereinnahmen. Die gibt er (über welche Umwege lassen wir außen vor) Kapitalisten, damit sie Waren und Arbeitskraft kaufen können, um damit Gewinn zu machen. Mit den Steuern auf die dabei umgesetzten Lebensmittel und den Gewinn werden später diese Staatskredite zurückgezahlt – im Kriegsfall wird dazu auch der Besiegte herangezwungen. Das führte in den 60er und 70er Jahren zwar zu einem vorübergehenden Aufschub der bereits dort am Horizont auftauchenden großen Krise, der war aber erkauft durch Staatsverschuldung und inflationäre Schübe sowohl in den USA als auch in Deutschland.

Das, was unter dem idiotischem Begriff »Neoliberalismus« verkauft wird, war in seinem Kern das Wegschlagen der nach dem Schock von 1929 gesetzlich verankerten Begrenzungen, ungehemmt auf zukünftig eintretende Gewinne zu spekulieren und so den Kreditmarkt anzuheizen. Der private Finanzmarkt wurde – in Deutschland dank der Freiheitskämpfer Schröder und Fischer – aller Fesseln entledigt, die ihn daran hinderten, Geld auf das Versprechen zu verleihen, es dafür in 10, 20 oder 30 Jahren mit einem erheblichen Gewinnaufschlag zurückzubekommen. Die staatliche Intervention in diese Prozesse wurde zurückgedrängt. Das war der Kern des Wechsel vom Keynesianismus zum Monetarismus.

Das, was jetzt passiert, ist trotz aller Zickzack-Bewegungen wiederum simpel: Weil die Spekulanten und Banken zu Recht zunehmend – und das ohne in ihrer Masse Marx je gelesen zu haben – das Gefühl bekommen, sie kriegen ihr verliehenes Geld nicht zurück, schreien sie wie kleine Kinder nach der Zinsgarantie des Staates und bekommen sie, weil sonst der ganze Laden kollabiert. Sie forderten alle eine Rückkehr zu Keynes und haben sie bekommen – im Grunde eine Art Kriegsfinanzierung ohne Krieg, aber mit ähnlichen Folgen, wenn der Feldzug vorbei ist. Also kehrte der Staat in die Defizitfinanzierung und Spekulantenabsicherung zurück – allerdings nachdem der Berg vermutlich niemals zu realisierender Gewinne bis zu einem Gewicht gewachsen ist, das alle unter sich begraben wird: die Banken, die warenproduzierende Betriebe, die Lohnabhängigen, den Staat und die von ihm Abhängigen und ihn als vermeintlichen Gottesersatz Anhimmelnden. Die Gewinnerwartungen, die auf Bergen von gedruckten und in Mikrochips gespeicherten Akten stehen, werden aber nicht realisierbar sein, weil Marx mit seinem Verweis auf die »wahre Schranke« eben recht hatte. Wertbildend, rufen wir Marxisten daher den Idioten der anderen Seite zu, ist nur die Ware Arbeitskraft. Die aber habt Ihr massenhaft auf die Straße und die Plätze geworfen, auf denen sie nun gegen Euch protestierend stehen. Wer aber die menschliche Arbeitskraft nicht mehr produktiv nutzen kann, hat aus der Geschichte zu verschwinden. Also verschwindet!

Politisch versucht die herrschende Klasse, bis an die Grenze des Gelddruckens – und demnächst auch diese letzte Grenze vermutlich überschreitend – Zeit zu kaufen. Da sie die Zeit aber letztlich stehlen werden, weil sie ja keinerlei Gegenwert liefern, sind sie nichts anderes als Zeitdiebe. Das wird ihnen nichts nützen, weil sich die erwarteten Gewinne angesichts des systembedingt wachsenden Elends nicht einstellen werden. Bevor das der letzte Spekulant begriffen hat, wird das Geld, auf den die Wechsel, puts, Obligationen und wie sie alle heißen, verbrieft sind, nichts mehr von seinem alten Wert haben.

Nichts wäre politisch von links idiotischer als die demnächst so sicher wie das Amen in der Kirche kommende Einladung anzunehmen, sich den Zeitkäufern anzuschließen und durch irgendwelche währungspolitischen Operationen zu versuchen, dem Sterbenden doch noch etwas Zeit zu retten. Statt sich die Hände an solch sinnlosen OPs blutig zu machen, wird die Linke zumindest in dieser Hinsicht ein bißchen auf den alten Hermann Hesse zu hören haben, der Siddhartha sagen läßt: »Ich kann denken. Ich kann warten. Ich kann fasten.« Die Ausprägung der Krise, die sich seit nun mehr als 30 Jahre aufgebaut hat, wird seine Zeit brauchen und das Durchkämpfen zu einer neuen geschichtlichen Formation, die sich nicht mehr auf G-G’ als seinem grundlegenden Gesetz bezieht, sondern die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse in kollektiver, solidarischer Anstrengung organisiert, wird nicht in Monaten, Jahren oder Jahrzehnten erledigt sein, sondern einige Generationen in Anspruch nehmen.

Produktion, Reproduktion und die Perspektive revolutionärer Kraft

Wer die letzten Schriften von Kurz gelesen oder gar das Glück hatte, ihm auf einer Diskussionsrunde zu begegnen, wird die bis in Verzweiflung hinüberwachsende Resignation gespürt haben, daß die Menschheit ihre Lage nicht so begreift, wie er sie begriffen hat. Obwohl in seinen organisatorischen Zusammenhängen die Abspaltung der Reproduktionsarbeit von der direkten Mehrwerterzeugung eine große Rolle in der Theoriebildung spielt, durchzieht seine Überlegungen eine angesichts seiner sonstigen Gedankenschärfe unverständliche Konzentration auf den unmittelbaren kapitalistischen Produktionsprozess. Die schreckliche Hoffnungslosigkeit, die sich in seine letzten Artikel geschlichen hat, mag auch damit zusammenhängen, daß er die Kraft der vor allem im Reproduktionsbereich tätigen Millionen nicht gesehen hat.

Silvia Federici und Nicole Cox hatten im Kern recht, als sie bereits 1974 schrieben: »Die Linke hat den Lohn als das Kriterium akzeptiert, anhand dessen die Arbeit von der Nicht-Arbeit, die Produktion vom Parasitismus … zu unterscheiden sind. Damit entzieht sich die ungeheure Menge nicht entlohnter Arbeit … ihren Analysen und ihrer Strategie. … Die Arbeit, die Frauen im Haushalt leisten, nicht zu sehen, bedeutet blind zu sein für die Arbeit und die Kämpfe der überwiegenden Mehrheit der Weltbevölkerung, die nicht entlohnt wird. … Denn sobald wir … aufblicken, … erkennen wird, daß wir … nichtsdestotrotz das kostbarste Produkt erzeugen, das es auf dem kapitalistischen Markt gibt: Arbeitskraft.«

Das unter Marxisten zuweilen immer noch zu hörende Argument, das stimme nicht, weil im Lohn ja auch die Kosten für die Lebensmittel der Kinder enthalten seien, ist so blödsinnig, daß es langsam keinen Spaß mehr macht, das abzusauen: Zum einen unterstellt es, mit dem Abladen der Einkaufstüte vor der Wohnungstür sei das Essen schon gekocht und seien die T-Shirts schon gewaschen. Zum anderen sollte jeder Marxist begriffen haben, daß der Lohn immer verhüllenden Charakter hat. Das ist, haben wir alle gelernt, so, weil es so scheint, als sei er die Bezahlung für den ganzen Arbeitstag. Aber er ist natürlich nur die Bezahlung für den halben oder einen anderen Bruchteil des Arbeitstages, weil es ja sonst keinerlei Mehrwert gäbe, ohne den zu erhoffen kein Kapitalist irgendeine Arbeitskraft kaufen würde. Aber Lohn verhüllt immer dreifach: Er verhüllt eben nicht nur die unbezahlte Mehrarbeit, die zum Mehrwert führt, sondern auch die unbezahlte Reproduktionsarbeit des Kochens, Waschens, Hausarbeiten-Beaufsichtigens, Tröstens und Ins-Bett-Bringens und er verhüllt drittens, daß die Auszahlung des Lohns nur an denjenigen, der nicht die Masse der Reproduktionsarbeit zu machen hat (ganz überwiegend eben immer noch der Mann) immer auch ein innerfamiliäres Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnis begründet.

In der Verzweiflung, der Schranke, auf die der Geleitzug aller unlösbar miteinander verbundenen kapitalistischen Waggons gegenwärtig zurast, auszuweichen, hat es in den letzten Jahrzehnten nicht nur die Versuche gegeben, die Bruchlandung durch das Aufblähen des Kreditsektors wenigstens zu verzögern (im Irrglauben, sie verhindern zu können).

Ein anderer, demnächst kenternder Versuch bestand darin, den Reproduktionsbereich als wertbildend zu erschließen. In der aufsteigenden Phase des Kapitalismus war jedem ordentlichen Geldgeber völlig klar: Verdient wird (außer vielleicht noch im Transportwesen) nur dort, wo mit hohem Einsatz fixen Kapitals gegenständliche Waren produziert werden. Also wurde alles das, was nicht dazu gehörte – Bildung, Gesundheit, Sicherheit, Kultur und anderes Gedöns – gerne dem Staat überlassen, der sich seine Geldmittel tunlichst auch bei der Masse der Bevölkerung und nicht etwa beim Kapital zu holen hatte. Auch das ist weder boshaft noch blöde, sondern vom kapitalistischen Standpunkt aus schlicht vernünftig. Ordentliche Ausbeutung funktioniert im nennenswerten Umfang ohne außerökonomischen Zwang nur dann, wenn die Arbeitsprozesse so kapitalintensiv sind, daß ein einzelner oder eine kleine Genossenschaft sie nicht organisieren kann.

Wenn die Produktion von Autos, U-Booten, Flugzeugen oder anderen Dingen, mit denen sich ordentlich Profit machen läßt, auch organisieren ließe durch den Zusammenschluß von 10 oder 20 der Leutchen, die stattdessen irgendeine kleine Software-Bude, Nachhilfeeinrichtung, psychosoziale Beratung, Gesundheitsfabrik oder ähnliches gründen, dann würden Autos, U-Boote und Flugzeuge auch genossenschaftlich produziert werden. Das passiert aber nirgends auf diesem Globus, weil hinter der Ausbeutung fremder Arbeitskraft immer der ökonomische Zwang steht, sich verkaufen zu müssen, weil die Dinge, die der Kapitalist Dich herstellen läßt, ohne ihn nicht herstellbar sind und Du ohne ihn eben auf der Straße lägest. Das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate stimmt. Weil aufgrund der Prozesse, die oben nur angedeutet sind, die klassischen, Industriewaren herstellenden Felder der Mehrwertproduktion dank der explodierenden Produktivität im Gefolge der mikroelektronischen Revolution als Mittel der Profitmacherei austrocknen, haben seit den siebziger Jahren die Kapitalisten dieser Welt ihrem geschäftsführenden Ausschuß – dem Staat – dem sie bisher dieses Gedöns gerne überlassen haben – zugerufen: Zieh Dich aus diesen Feldern zurück, ich will jetzt selbst versuchen, mit Schülern, Studenten, Strafgefangenen, Kranken, Drogenabhängigen, Lahmen und Alten Geld zu machen! In diesen Bereichen wird aber weiterhin keine Ware produziert, die auch nur annährend die früher gewohnten Profitraten erzeugt. Also muß hier – marxistisch gesprochen – zur ältesten Methode des Kapitalismus zurückgegriffen werden, Profit nicht durch Steigerung des relativen Mehrwerts (Steigerung der Produktivität), sondern durch Steigerung des absoluten Mehrwerts (Verlängerung des Arbeitstages und Drücken der Löhne) erzwungen werden.

Das erklärt die Logik der finanziell und zeitlich elenden Entlohnungsverhältnisse im gesamten Reproduktionsbereich. Aber dieses Hineingehen in den von der Mehrwertproduktion her gesehen wenig lohnenden Reproduktionsbereich ist ein ähnlicher kapitalistischer Verzweiflungsakt wie die aufeinander folgenden Rettungspakete der Euro-Helden. In diesen Bereichen ist kein Schwein fett zu bekommen und viele dort Tätige bekommen das bißchen Überschuß, das sie erwirtschaften, nur, weil sie am Tropf staatlicher Gelder hängen. Sobald von dort mit Entfaltung der gegenwärtigen Krise die Nadel gezogen wird, schrumpft auch diese Blase zusammen und wirft weitere Millionen dort mehr oder weniger prekär Beschäftigter auf’s Pflaster.

Historisch lag bei Marx der Reproduktionsbereich übrigens auch deshalb außerhalb seines Analyseradars, weil die damalige Situation tatsächlich eine andere war: »Die Hausarbeit als spezifischer Zweig der kapitalistischen Produktion lag außerhalb des historischen und politischen Horizonts von Marx, jedenfalls was die industrielle Arbeiter_innenklasse anging. … Bis zu den 1870er Jahren wurde, in Einklang mit einer Politik der ‚maßlosen Verlängrung des Arbeitstags‘ und der maximalen Absenkung der Kosten der Arbeitskraftproduzenten, die Reproduktionsarbeit auf ein Minimum beschränkt. … Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach zwei Jahrzehnten Arbeiter_innenaufständen, während derer das Gespenst des Kommunismus in Europa umging, begann die kapitalistische Klasse in die Reproduktion der Arbeitskraft zu investieren.« Karl ist also freigesprochen – wir nicht. Also haben wir uns dem Reproduktionsbereich analytisch und politisch mindestens genauso intensiv zu widmen wie dem Produktionsbereich.

Es wäre ein Treppenwitz, wenn die Linke in dem Moment, wo der kapitalistische Geleitzug im Herandampfen an die innere Schranke beständig Arbeiter beiderlei Geschlechts aus dem Fenster wirft, den mit blutigem Schädel am Gleisbett Hockenden zurufen würde, sie müßten vor allem wieder zurück in den Zug, um noch etwas ändern zu können. Auch wenn wir – erneut bekennt sich der Autor mitschuldig – in unseren Statistiken anderes zusammenaddiert haben: Die Klasse der Lohnabhängigen schrumpft im Herandampfen auf dieses letzte Hindernis, weil der moderne Kapitalismus eben immer weniger Arbeitskraft produktiv für seine Mehrwertproduktion vernutzen kann. Also wächst die Zahl der Slums, Alternativkommunen, prekarisierten Nachhilfelehreinnen und sonstige Bereiche, während die Arbeiter und Angestellten auf den Eisschollen der großen, geordneten Betriebe wie VW, Daimler oder auch Allianz und Deutsche Bank spüren, daß ihre Schollen nicht nur bedenklich im heraufziehenden Sturm schwanken, sondern schmelzen.

Weil die Menschen aber nicht blöde, sondern das Wunderbarste sind, was dieser Planet je hervorgebracht hat, gibt es einen Ausweg, bevor der Kapitalismus uns alle zwingt, mit ihm unterzugehen. Linker Politik muß nur die Kleinigkeit gelingen, sowohl die Lohnabhängigen als auch diejenigen gegen den Kapitalismus zu organisieren, die von ihm ausgespuckt und verachtet werden. Das fällt umso leichter, weil sie das ja schon selber tun: Keine der an allen Ecken auch dieser Republik keimenden Bewegungen, ob nun Miethäusersyndikate, Genossenschaften, Tauschringe oder Frauengruppen versteht sich als pro-kapitalistisch. Es gibt – wie sollte das einige Jahrzehnte vor dem großen Bruch auch anders sein – noch keine Einigkeit über das, was Kapitalismus ersetzen kann. Aber es gibt eine wachsende Einigkeit, daß das Leben auf diesem Planeten kapitalistisch nicht mehr organisiert werden kann.

Die Partei?

Epochenbrüche kommen nicht von selbst. Sie sind kein Naturgesetz, sondern Ergebnis menschlichen Handelns. Im Verlaufe der vor uns liegenden Jahrzehnte wird sich eine Organisation herauskristallisieren, die in der Lage ist, die im kapitalistischen Produktionsbereich tätigen Lohnabhängigen mit den aus dem kapitalistischen Produktionsprozeß Ausgespuckten, für den Kapitalismus Überflüssigen zu einer neuen »Klasse für sich« zu verschmelzen, die nach dem mutigen Sprung der Pariser Kommune und dem großen Versuch von 1917-89 den dritten Schritt in Richtung Sozialismus geht. Es wäre eine historische Ausnahme, wenn es diese Organisation jetzt schon gäbe. Vom »Wohlfahrtsausschuß«, der die französische Revolution organisierte, war zehn Jahre vor 1789 ebensowenig zu sehen wie von den Bolschewiki zwanzig Jahre vor dem Sieg am Winterpalais. Aber die Konturen einer vorrevolutionären Krise, wie sie sich vor jedem zum Sehen willigen Auge gegenwärtig herausbildet, zeichnen immer auch die Konturen ihrer Lösung und damit die Konturen des organisierenden Ausdrucks ihrer Lösung vor. Ob das dann Partei heißt oder wieder Wohlfahrtsausschuß oder Rat der Athene, ist schnuppe. Drei Dinge, die im Charakter der Krise wurzeln, sind konstitutiv für eine solche Organisation.

Für diese Krise gibt es keine nationale Lösung mehr. Die Nationalstaaten in heutiger Form sind eine Geburt des Kapitalismus und sie werden mit ihm zugrunde gehen. Jeder Versuch, diese große Krise durch einen Rückzug auf nationale Gebilde zu heilen, wird auf einen auf den ersten Schritten vielleicht vertrauten und anheimelnd-verlockenden, aber letztlich reaktionären Holzweg führen, auf dem diejenigen, die ihn betreten wollen, dann die nationalbornierten Geister nicht mehr loswerden, die sie in der verzweifelten Hoffnung riefen, damit wenigstens einen furiosen Ausbruch aus der scheinbar ausweglosen Lage starten zu können.

Es wird aber auch keine supranationale Organisation geben, die – wie vielleicht früher in den kühnsten Träumen vor der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, die nicht ohne Grund keinerlei geographische Begrenzung im Namen führte – diesen langwierigen Prozess revolutionärer Brüche, der vor uns liegt wie eine Landschaft aus drohenden Vulkanen, Wüsten und eisigen Bergen, mit ruhiger Hand leiten könnte. Denn wenn die oben skizzierten Überlegungen richtig sind, liegt vor uns eben nicht nur ein Wechsel innerhalb des Kapitalismus. Das wäre vergleichbar mit dem Übergang vom rheinischen zum heutigen Kapitalismus ohne Grenzen und Hemmungen oder mit dem Übergang vom Faschismus als einer Form des Kapitalismus zur Erhard’schen sogenannten sozialen Marktwirtschaft.

Wir reden hier von einem Epochenbruch, der historisch nur zu vergleichen ist mit dem Übergang von der Sklavenhaltergesellschaft zum Feudalismus oder vom Feudalismus zum Kapitalismus. Brüche dieses Ausmaßes aber gingen bisher immer einher mit einem Zerfall der vorher existierenden überregionalen Strukturen. Es spricht nichts dafür, daß das in den vor uns liegenden Prozessen anders sein wird. Weil der Einwand natürlich kommt, heute sei alles viel mehr vernetzt als früher: Das babylonische Sprachgewirr im Internet ist gegenüber der streng vereinheitlichten Amtssprache im römischen Reich nicht mehr, sondern weniger Vernetzung. Ob die fragilen Strukturen der auf ununterbrochene Stromzufuhr und dauernde komplizierte Wartung angewiesenen heutigen Kommunikationstechniken wirklich krisenfester sind als es die robuste, mit tausenden von Pferdewechsel- und Botenweitergabe-Knotenpunkten gesicherte Kommunikationsstruktur jenes Reiches es war, die trotzdem den Zerfall der kontinental vereinheitlichten Struktur nicht verhindern konnte, werden wir mal geduldig abwarten. Wenn es also so ähnlich abläuft wie bei früheren Epochenbrüchen, werden dezentrale Strukturen vielleicht nicht der Endpunkt, aber der Ausgangspunkt des Epochenwechsels darstellen. Eine Organisation, die diesen Prozess einigermaßen bewußt steuern will, wird also eine tiefe Verwurzelung in diesen dezentralen Strukturen, die sich bereits jetzt herauszubilden beginnen, haben müssen.

Eine Organisation, deren Namen sich mit dem bevorstehenden Epochenbruch ähnlich fest verknüpft wie die Jakobiner mit der französischen oder die Bolschewiki mit der russischen Revolution, wird zweitens der streitigen und intensiven theoretischen Debatte einen hohen Stellenwert einräumen. Es gibt keine gelingende revolutionäre Praxis ohne revolutionäre Theorie und wer glaubt, theoretische Arbeit ließe sich mal eben beim Bier erledigen, wird nach einigen Erfolgen im Effekthaschen von der Geschichte erledigt werden.

Vor allem aber wird sie weiblicher sein als alles an politischen Organisationen, die wir bisher kennen. Seit dem Sieg des Patriachats, dieser historischen Niederlage des weiblichen Geschlechts, sind Frauen politisch an den Rand der Ereignisse gedrückt worden. In die Mitte des Geschehens haben sie – in Paris und in Rußland die dortigen revolutionären Ereignisse einläutend – immer dann gedrängt, wenn und solange sie begründete Hoffnung hatten, daß sie im Zuge des Umbruchs den ihr gebührenden Platz im Zentrum aller das Leben prägender Entscheidungen wieder einnehmen können. Das wird auch im kommenden Umbruch so sein oder es wird keine neue Gesellschaft geben, die diesen Namen verdienen würde.

Wann geht’s los? Deutschland ist nicht der Mittelpunkt der Welt. Aber Deutschland ist kurioserweise im Moment das Mittelzentrum, was – unter Anspannung und Überdehnung all‘ seiner politischen und ökonomischen Kräfte – im Moment alles tut, um den nächsten Krisenschub wenigstens um einige Monate hinauszuschieben. Der einstige Chefvolkswirt der Europäischen Zentralbank, Jürgen Stark, der mit großem Knall im September 2011 seinen Rücktritt erklärt hatte, hat vermutlich recht, wenn er sagt: »Ich glaube, die Krise wird sich im Spätherbst zuspitzen. Wir werden in eine neue Phase der Krisenbewältigung eintreten.«

Nur wie er auf den Begriff »-bewältigung« kommt, ist ein Rätsel. Gar nichts wird bewältigt werden. Recht behalten wird vielmehr Rosa Luxemburg, die das voraussah, was jetzt Realität wird: »Der Akkumulationsprozeß hat die Bestrebung, überall an Stelle der Naturalwirtschaft die einfache Warenwirtschaft, an Stelle der einfachen Warenwirtschaft die kapitalistische Wirtschaft zu setzen, die Kapitalproduktion als die einzige und ausschließliche Produktionsweise in sämtlichen Ländern und Zweigen zur absoluten Herrschaft zu bringen. Hier beginnt aber die Sackgasse. Das Endresultat einmal erreicht – was jedoch nur theoretische Konstruktion bleibt -, wird die Akkumulation zur Unmöglichkeit: Die Realisierung und Kapitalisierung des Mehrwerts verwandelt sich in eine unlösbare Aufgabe.«

Die Sackgasse ist da. Möge DIE LINKE. sich den Stürmen, die jetzt kommen, als würdig erweisen.

Dr. Manfred Sohn ist Diplomsozialwirt und Landesvorsitzender der Linkspartei in Niedersachsen.
 

Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/829420.vor-dem-epochenbruch.html

 
 
 
Prekarisierung der Arbeitsbedingungen

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